Samstag, 8. November 2008

Spitzenrecherche

Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, warum ich Spiegel Online noch lese. Wahrscheinlich, weil ich die Hoffnung nicht aufgebe, doch noch mal einen vernünftigen Artikel zur Lektüre zu bekommen. Heute jedenfalls gab es wieder einmal haarsträubenden Blödsinn zu lesen. Dafür vom Feinsten.

Max Thomas Mehr schreibt in seinem Kommentar über die Noch-SPD-Landtagsabgeordnete Carmen Everts, dass man, hätte man ihre Dissertation gelesen, sich über sie nicht hätte wundern dürfen (mehr...). Prima, denke ich, das lese ich mal. Hier hat sich scheinbar echt noch jemand die Mühe für eine Recherche gemacht. Aber eben nur scheinbarm wie ich hinterher feststellen musste.

Dem Generalsekretär der Hessen-SPD ist es nicht einmal peinlich, jetzt E-Mails der vermeintlichen Delinquenten als Beleg dafür hervor zu kramen, dass man an ihrer Linientreue nicht hätte zweifeln können.

Zwar ist es in der Tat höchst fragwürdig, vielleicht sogar unanständig, persönliche E-Mails von Carmen Everts zu veröffentlichen, aber auch in den Printmedien gibt es Fundstellen, aus denen nicht zu schließen war, dass sie ihre Stimme Andrea Ypsilanti nicht gibt, zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau vom 30. Oktober. Und sich darauf zu beziehen, ist nicht zwingend peinlich. Welchen Bezug dieser Ausflug zur Dissertation von Carmen Everts hat, weiß nur der Autor selbst. Vermutlich wurde der Artikel so "passender".

Da heult es von Verrätern fast wie einstmals im Demokratischen Zentralismus.

Auch diese tendenziöse Aussage, die im Übrigen nicht einmal berücksichtigt, was denn eigentlich eine Gewissensentscheidung ist, und was eben nicht, zeugt nicht unbedingt von einem wissenschaftlichen Recherchewillen. Zum Nachlesen und Üben sei dieser Beitrag in der Frankfurter Rundschau empfohlen (mehr...). Zum Heulen (dumm) sind eher solche Aussagen mit Bezug auf den "Demokratischen Sozialismus".

Dabei hätten die Hessen-Sozis nur mal beizeiten eine von der hauseigenen Friedrich-Ebert-Stiftung gesponserte Doktorarbeit lesen sollen: nämlich die von Carmen Everts, einer der vier Rebellen.

Ah. Der Ausdruck "Rebellin" soll an dieser Stelle ja etwas Positives suggerieren: die gute Carmen Everts gegen die böse Andrea Ypsilanti. Schwarz gegen weiß. Klare Kante, Freund-Feind-Denken. Wieder einmal ein schlecht ausgeführter Versuch, ein Feindbild aufzubauen, das mir der Realität soviel zu tun hat wie die Deutsche Bahn mit Pünktlichkeit. Dass sich alle vier Abgeordnete eher widersprüchlich verhalten haben und nicht nachvollziehbar argumentierten, fällt unter den Tisch. Dass ihr Handeln nicht in einem logischen Einklang mit ihrem politischen Willen steht, genauso. Aber gut - ab diesem Abschnitt wird auf die Dissertation von Carmen Everts eingegangen. Vielleicht erfährt man doch noch etwas, das uns alle wesentlich weiterbringt.

2000 veröffentlichte sie ihre grundlegende Kritik an der PDS unter dem Titel: "Politischer Extremismus – Theorie und Analyse am Beispiel der Parteien REP und PDS". Akribisch und detailversessen setzt sich Carmen Everts darin mit den diversen Fundi- und Realoflügeln der Postkommunisten auseinander. Sie benennt deren Defizite in Sachen Demokratie und Menschenrechte und straft all diejenigen Lügen, die behaupten, dass es in der Fraktion neben Dagmar Metzger keine Kritiker des Tolerierungsbündnisses gegeben haben soll.

Komisch, Andrea Ypsilanti hat doch mit allen Abgeordneten Vier-Augen-Gespräche geführt. Hätte Carmen Everts nicht auf ihre Dissertation hinweisen können? Davon abgesehen hat sie doch einen Kriterienkatalog zum Umgang mit den Linken mitdefiniert. Das ging vor lauter Recherche wohl unter. Dass man andere Parteien kritisiert, ist im Übrigen ja kein außergewöhnlicher Vorgang und gehört zur Lebendigkeit dieser parlamentarischen Demokratie. Wenn sich alle gegenseitig lieb haben würden, gäbe es ja ohnehin nur eine Partei, aber das wäre ja schon fast wieder der "Demokratische Sozialismus".

Zwar ist die Arbeit acht Jahre alt und damals hieß die Linke noch PDS. Auch Oskar Lafontaine war seinerzeit gerade noch Spitzensozi und nicht Anführer der Linken.

Oskar Lafontaine war seinerzeit gerade nicht mehr Spitzensozi, er trat im März 1999 von allen Ämtern in der SPD zurück. Ein Blick in den Brockhaus oder bei Wikipedia, der keine halbe Minute kostet, hätte hier frühzeitig für Klarheit gesorgt (siehe auch hier...). Aber Oskar Lafontaine musste natürlich in diesen Artikel, denn er ist Vorsitzender der Partei der Linken. Dumm nur, dass der Bezug so nicht herzustellen ist.

Dann wurde Roland Koch in Hessen im Frühjahr 1999 Ministerpräsident, Rot-Grün verlor damit die Mehrheit im Bundesrat – und sogleich dachten zwei damalige Spitzensozis, Oskar Lafontaine und Ottmar Schreiner, laut darüber nach, diesen Verlust auf Bundesebene mithilfe der PDS in Mecklenburg-Vorpommern wieder auszubügeln.

Das ist auch wieder historisch mangelhaft recherchiert, in der Chronologie der Ereignisse unlogisch und zudem wird damit unterstellt, dass Oskar Lafontaine und Ottmar Schreiner nach der Landtagswahl in Hessen ein SPD-PDS-Bündnis in Mecklenburg-Vorpommern zimmerten, quasi als Ausgleich für Schwarz-Grün in Hessen. Tatsächlich gab es diese Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern schon seit dem 3. November 1998 und damit weit vor der Hessen-Wahl. Diese Aussage ist also schlicht irreführend.

Offenbar wurden ihre Vorbehalte aber monatelang nicht gehört.

Offenbar wird ein widersprüchliches Verhalten auch einfach ignoriert, das passt ja auch schlecht zu einer "Rebellin", die uns vor den bösen Kommunisten rettet. Carmen Everts hat in der Öffentlichkeit stets etwas anderes gesagt, zum Beispiel das hier: "Ich brauche keine Aufforderung, Andrea Ypsilanti zu wählen. Das ist unredlich und ärgert mich. Ich finde dies als einen persönlichen Affront" (Quelle: Frankfurter Neue Presse). Ein Vorbehalt liest sich anders.

Fragt sich, ob die Hessen-SPD fähig ist, Everts Kritik am Tolerierungskurs fair zu diskutieren – und dafür auf eine Demonstration von Macht zu verzichten.

Ich frage mich vielmehr, wann die Spiegel Online-Redakteure endlich zur Besinnung kommen - erst wenn die Finanzmarktkrise auch in die Redaktionsstuben schwappt? Max Thomas Mehr scheint die Tatsache zu ignorieren, dass tatsächlich teilweise sehr kontrovers in der Partei über den Tolerierungskurs diskutiert worden ist (und diskutiert wird). Zu unterstellen, dass es "nur" die vier sogenannten Rebellen gewesen sind, die zudem als einzige Politiker in der SPD ein Gewissen haben, ist schlicht unredlich und tendenziös. Ordentliche journalistische Recherche sieht völlig anders aus. Vielleicht gibt Hans Leyendecker in diesem Punkt ja Nachhilfe, das wäre für einige Redakteure hilfreich. Indes möchte ich noch die erlaubte Frage stellen, wie man einen dermaßen schlecht recherchierten und mangelhaften Beitrag mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren kann? Oder sollten wir uns doch zuerst noch einmal der Frage widmen, was eigentlich ein Gewissen ist? Wie sieht's aus?

Crabby Jack

- Wäre die Erde eine Bank, hätte man sie schon längst gerettet.

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Comments

...dumm nur, dass ich...
...dumm nur, dass ich gar kein Geld in der Schweiz...
derCobold - 10. April, 22:21
Ja Mist
Du hast recht, und ich dachte zuerst, es sei Altbundespräsident...
CrabbyJack - 8. Januar, 17:12
Wenn das im Hintergrund...
Wenn das im Hintergrund nicht mal Joachim Gauck ist.
derCobold - 7. Januar, 23:59
Respekt! Ganz schön früh...
Respekt! Ganz schön früh dran, dieses Jahr. Vielleicht...
derCobold - 10. Dezember, 09:03
Respekt! Ganz schön früh...
Respekt! Ganz schön früh dran, dieses Jahr. Vielleicht...
derCobold - 10. Dezember, 09:03
Wo kommt er her? Wo geht...
Wo kommt er her? Wo geht er hin? Fragen über Fragen...
derCobold - 8. Dezember, 19:58
Das kommt davon, wenn...
Das kommt davon, wenn man kein Respekt vor dem Alter...
derCobold - 20. Juni, 20:52

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